Carmen Herrera - eine späte Karriere

Bevor ich ihre Arbeiten kennenlernte, hatte ich begonnen meine ersten Bilder im Hard Edge-Stil zu malen, also mit harten Kanten, die die Farbflächen voneinander abgrenzen. Dann sah ich zum ersten Mal Carmen Herreras Bilder und war sehr fasziniert. Ich hatte das große Glück, im Jahr 2017/2018 die Ausstellung „Lines of Sight“ im Düsseldorfer K20 besuchen zu können und ihre Bilder live zu sehen: die Klarheit, die strengen Linien, die Farbflächen, die geometrische Aufteilung der Bildflächen, das alles sprach mich total an.

 

Heute vor einem Jahr ist Carmen Herrera im Alter von 106 Jahren in New York gestorben. Ich habe großen Respekt vor ihrer Arbeit.

Biographisches

Am 13. Mai 1915 wird Carmen Herrera in Havanna geboren. Sie ist das jüngste Kind in einer beinahe modernen Patchwork-Familie: Ihre Mutter, Journalistin, Autorin und Feministin heiratet 1913 in zweiter Ehe Antonio Herrrea. Sie bekommen zwei Kinder (das jüngere ist Carmen) und auch die fünf Kinder aus erster Ehe leben im gemeinsamen Haushalt.

 

Schon als Kind erhält sie Mal- und Zeichenunterricht und mit 14 Jahren reist sie nach Paris, um dort eine Zeit lang die Schule zu besuchen.

 

1938 beginnt sie zunächst ein Studium der Architektur in Havanna, bricht dieses jedoch 1939 aufgrund politischer Unruhen wieder ab.

 

Im selben Jahr heiratet sie den 13 Jahre älteren Amerikaner Jesse Loewenthal, mit dem sie nach New York zieht. Sie ist jedoch enttäuscht von dem, was sie dort an moderner Kunst kennenlernt und hatte Havanna als viel offener empfunden. Einzig für Künstler der modernen Abstraktion kann sie sich begeistern.

 

1948 gehen Carmen Herrera und ihr Mann nach Paris. Aufgrund ihres früheren Schulbesuches in Paris, beherrscht Carmen Herrera die französische Sprache. Ihr Mann und sie fühlen sich sehr wohl in der europäischen Metropole, weshalb sie den Aufenthalt verlängern. Viele junge Künstler*innen strömen in der Zeit nach dem Krieg nach Paris, wo dadurch ein reger kreativer Austausch stattfindet.

 

Sie lernt in Paris die Künstlervereinigung Réalités Nouvelles kennen, die sie sehr beeindruckt. Damals entscheidet sie, sich vollständig der Abstraktion zu widmen. Sie experimentiert mit unterschiedlichen Formen. Zunehmend werden ihre Arbeiten geometrischer. Charakteristisch wird die Zweifarbigkeit und die geraden Linien. Durch den Wechsel zu Acryl- statt Ölfarben und die Verwendung von Abdeckband erhalten ihre Werke eine zusätzliche Präzision und Homogenität.

 

1954 ist keine weitere Verlängerung des Aufenthaltes in Paris möglich. Das Paar kehrt zurück nach New York. Mit ihrem geometrisch abstrakten Stil ist sie der Kunst in New York der Zeit jedoch voraus.

 

Kontinuierlich und unbeeindruckt des geringen Interesses an ihrer Kunst arbeitet sie dennoch konsequent weiter. Einzig ihr Ehemann glaubt durchgehend an sie und unterstützt sie. Im Jahr 2000 stirbt dieser im Alter von 98 Jahren.

 

2004 verkauft Carmen Herrera ihr erstes Bild und seitdem steigen ihre Bilder ständig im Wert, so dass inzwischen schon sechsstellige Summen bei Verkäufen erreicht werden. Große Museen wie das MoMA in New York und die Tate Gallery in London haben bereits Bilder von ihr erworben.

 

Quellen:

Carmen Herrera – Lines of Sight, Katalog zur Ausstellung der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2017

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Carmen_Herrera

Warum diese späte Karriere?

Dass ich Carmen Herreras Bildern vorher noch nicht begegnet war, war keine große kunsthistorische Bildungslücke meinerseits, sondern es lag daran, dass sie sehr lange Zeit weitestgehend unbekannt war und erst in den 2000er bzw, 2010er Jahren weltweite Berühmtheit erlangte. Ihre Karriere in den letzten Jahren ist beispiellos und man fragt sich, wie kann es sein, dass diese Frau erst mit 89 Jahren ihr erstes Bild verkauft hat?

 

Aus kunsthistorischer Perspektive hätte ihr ein Erfolg mit Sicherheit schon viel früher zugestanden. Dass sie aus Kuba stammte war aber schon ein Hindernis, vor allem im New York der 1950er Jahre. Die Stadt war wesentlich weniger weltoffen als Paris, wo sich Carmen Herrera deutlich wohler gefühlt hatte. Ihre Kunst passte auch nicht zu dem, was man sich unter lateinamerikanischer Kunst vorstellte. Sie war zu progressiv gegenüber dem, was damals in New York angesagt war. Dazu kam noch der Umstand, der auch heute auf dem Kunstmarkt schwierig ist: Sie war eine Frau. Sie erzählte auch selbst immer wieder die Geschichte, dass sie von einer Galeristin abgelehnt wurde mit der Begründung, sie stecke ihre männlichen Künstlerkollegen zwar künstlerisch in die Tasche, aber da sie eine Frau sei, wolle sie sie nicht vertreten (Carmen Herrera – Lines of Sight, Katalog zur Ausstellung der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen 2017, 2018, S. 21). Nun möchte man vielleicht aufschreien, wenn man das hört, aber auch heute sind Frauen auf dem Kunstmarkt immer noch deutlich unterrepräsentiert. Vielleicht traut sich heute keiner mehr es so deutlich zu formulieren, aber die Zahlen sprechen für sich

Was wir von Carmen Herrera lernen können

Für alle, die sich gerade mitten in ihrer Midlife-Crisis befinden und glauben, ihr Leben ist vielleicht schon mit um die 50 Jahren gelaufen und wird nichts Neues mehr für sie bereithalten, sei also gesagt: Auch mit 89 Jahren kann man noch eine internationale Karriere starten. Es ist also nie zu spät! Und immerhin hatte Carmen Herrera das Glück gehabt, dann doch 106 Jahre alt zu werden, damit sie diesen weltweiten Aufstieg noch eine Zeit miterleben konnte.

 

Ausdauer und der Glauben an sich selbst zeichneten Carmen Herrera aus. Dafür ausschlaggebend war ihre Liebe zu einer bestimmten Sache, der geraden Linie.

 "Es ist die Schönheit der geraden Linie, die mich antreibt."

Carmen Herrera

Nun mag das Leben oftmals komplexer sein, als dass es mit einer geraden Linie vergleichbar wäre. Um in diesem Bild zu bleiben: Vermutlich gibt es kein gerade verlaufendes Leben. Aber das Entscheidende ist:

 

Wo ist deine Linie im Leben, wo ist die Sache auf die du dich konzentrierst, weil du sie liebst? Gibt es etwas in deinem Leben, auf das du dich genauso konzentrieren kannst wie Carmen Herrera? Was ist deine „gerade Linie“?

 

Auch bei Carmen Herrera war dies nicht von Anfang an da. Aber als sie es gefunden hatte, ist sie konsequent dabei geblieben. Sie hat sich nicht beirren lassen durch ignorante Künstlerkollegen, Sammler*innen oder Galerist*innen. Sie ist sich und ihrer Sache treu geblieben und ermutigt damit, es ihr gleichzutun.

 

Vergiss die Regeln oder schreib sie neu, wenn du von deiner Sache überzeugt bist. Verfolge deinen Traum, dein Ziel, denn das ist es, was dich antreibt und dir Sinn gibt. Das ist kein Aufruf zu skrupellosem Handeln, sondern im Sinne Carmen Herreras unaufgeregt und konsequent an dem festzuhalten, was dir wichtig ist.

 

Der Erfolg ist nicht sicher. Auch bei Carmen Herrera wäre es beinahe schief gelaufen. Vielleicht stellt sich ein Erfolg also spät ein oder auch gar nicht, aber wenn es einen Weg dorthin gibt, dann ist es der, deiner eigenen Sache zu folgen. Dann ist dir zumindest der eine Erfolg sicher: dass du bei dir bist und vielleicht ist dies sogar der größte Erfolg, den du erreichen kannst.